„Raubbau an der Gesundheit“ – Berufsunfähigkeit trotz Arbeit

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Gemeinhin gilt: Berufsunfähig ist, wer seine zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit aufgrund Krankheit, Unfall oder Kräfteverfall voraussichtlich auf Dauer nicht mehr im Umfang von 50% ausüben kann. Wer hingegen vollschichtig in seinem Beruf arbeitet, kann nicht berufsunfähig sein, so jedenfalls die landläufige Meinung. Treibt der Versicherungsnehmer jedoch „Raubbau an der eigenen Gesundheit“ – mutet er sich also entgegen ärztlichem Rat mehr zu, als gut für ihn wäre, ist die Berufsunfähigkeitsversicherung dennoch verpflichtet, die versicherten Berufsunfähigkeitsleistungen an ihn auszuzahlen.

Besonders hart trifft die Berufsunfähigkeit häufig Selbstständige und Kleinunternehmer. Der Ausfall der eigenen Arbeitskraft kann hier rasch zu Existenzverlust und einem gesellschaftlichen Absturz führen. Aus diesem Grund versuchen diese Versicherungsnehmer oft, möglichst lange trotz Gefahr für die eigene Gesundheit oder erhebliche Beeinträchtigungen durch die Erkrankung ihren Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten, da sie auf die Einnahmen aus ihrem Unternehmen dringend angewiesen sind oder um einen Nachfolger zu finden, an den sie ihr Unternehmen veräußern können.

So verhielt es sich auch in dem vom OLG Hamm entschiedenen Fall einer an Depressionen erkrankten Geschäftsführerin eines kleinen Betriebes: Diese arbeitete zuletzt montags bis samstags etwa 14 Stunden täglich und ging auch sonntags ihrer beruflichen Tätigkeit etwa 6 bis 8 Stunden nach. Als „Mädchen für alles“ gehörten zu ihren Aufgaben neben der allgemeinen Geschäftsführung das Controlling, der Vertrieb, der Einkauf und die Überwachung der Produktion sowie das Personalmanagement. Glaubhaft trug sie vor, dass sie in ihrem Unternehmen einer Art „Klammerfunktion“ mit Letztentscheidungskompetenz innehabe, sodass sie wegen ihres umfassenden Überblicks für das Unternehmen unverzichtbar gewesen sei.

Nachdem die Versicherungsnehmerin schwer psychisch erkrankte, musste sie sich bereits ab Oktober 2007 einer medikamentösen Behandlung unterziehen, um in ihrem Alltag weiter bestehen zu können. Erst als im März 2008 feststand, dass die medikamentöse Therapie nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung des Gesundheitszustandes der Versicherungsnehmerin führte, gab sie ihre Tätigkeit als Geschäftsführerin auf und beantragte Berufsunfähigkeitsleistungen. In der Folge wurde im März 2008 das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Unternehmens und am 1. Juli 2008 zudem auch über das Vermögen der Klägerin selbst eröffnet.

Die Berufsunfähigkeitsversicherung lehnte die Leistungen ab. Zwar gelangte das von der Berufsunfähigkeitsversicherung in Auftrag gegebene psychiatrische Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Klägerin nicht arbeitsfähig sei, dies sei jedoch eine „normale Reaktion auf den erlittenen Verlust“ (nämlich die Insolvenz des Unternehmens). Ein Krankheitswert sei nicht erkennbar.

Die Klägerin erhob hierauf Klage und begehrte nun Berufsunfähigkeitsleistungen ab Juni 2007 – dem Zeitpunkt, an dem der Hausarzt die Diagnose einer schweren Depression erstmals gestellt hatte. Nachdem sie in dem Verfahren erster Instanz unterlag, legte sie Berufung zum Oberlandesgericht Hamm ein.

Der Senat des OLG Hamm bejahte einen Anspruch auf Berufsunfähigkeitsleistungen ab März 2008. Nach Auffassung des Berufungsgerichts stehe nach Einschätzung durch den medizinischen Sachverständigen fest, dass spätestens ab März 2008 von einer Berufsunfähigkeit auszugehen sei. Hierfür spreche einerseits, dass die bereits im Oktober 2007 eingeleitete medikamentöse Therapie frustran verlaufen sei und dass auch für die Zeit vor März 2008 das für ihn stimmige Bild einer mittelgradigen depressiven Episode dargelegt und bestätigt sei. Soweit der Berufsunfähigkeitsversicherer darauf verwiesen hatte, von einer Berufsunfähigkeit sei schon deshalb nicht auszugehen, da die Klägerin bis zum 16. März 2008 weiter wie gewohnt gearbeitet habe, hielt dies der Senat nicht für überzeugend. Die Fortführung der beruflichen Tätigkeit sei nämlich unter „Raubbau an ihrer Gesundheit“ geschehen. Jedenfalls ab März 2008 sei sie zu einer Tätigkeit im Umfang von 50% ihrer zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit nicht mehr in der Lage gewesen. Zu einem Raubbau an seiner Gesundheit sei der Versicherte jedoch nicht verpflichtet. Auch eine Umorganisation sei der Klägerin nicht möglich gewesen, da sie in ihrem Unternehmen eine Schlüsselposition besetzt habe. Die Klägerin sei – auch aus Sicht der angehörten Zeugen – nicht austauschbar gewesen, da sie eine überragende Fachkompetenz im Unternehmen besaß. Zudem habe der Sachverständige die im Juni 2007 durch den Hausarzt gestellte Diagnose nach Sichtung der medizinischen Unterlagen für plausibel erachtet.

Allerdings konnte der vom Gericht bestellte Sachverständige nicht sicher bestätigen, dass die Berufsunfähigkeit bereits im Jahr 2007 zum Zeitpunkt der Einleitung der medikamentösen Therapie eingetreten sei. Zur Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist nämlich die ärztliche Prognose zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit maßgeblich. Nach den Versicherungsbedingungen soll eine Berufsunfähigkeit dann gegeben sein, wenn davon auszugehen ist, dass der Versicherungsnehmer seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit „voraussichtlich auf Dauer“ nicht mehr ausüben können wird. Im Jahr 2007 (zu Beginn der medikamentösen Therapie) durften die Ärzte aber davon ausgehen, dass die Therapie anschlagen und zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes führen würde. Dass die Therapie frustran verlaufen und sich der Gesundheitszustand sogar noch verschlechtern würde, war im Jahr 2007 noch nicht vorherzusehen. Aus diesem Grund sprachen die Richter des OLG Hamm in ihrem Urteil 20 U 75/17 vom 27.04.2018 der Klägerin Berufsunfähigkeitsleistungen erst ab März 2008 zu.

Jürgen Wahl, Rechtsanwalt, www.versicherungsrecht-offenbach.de

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