Der abgetrennte Finger

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Zugegeben, es gibt appetitlichere Möglichkeiten um an Geld zu gelangen. Doch wenn der finanzielle Schuh drückt, wird der Verlust eines Fingers oder einer Fußzehe für manchen Versicherten eine attraktive Option zum schnellen Geld. Die Betrugsabteilungen der Versicherungsunternehmen wissen, wie schwer es sein kann, eine solche Selbstverstümmelung nachzuweisen.

Zugunsten des Versicherers entschied das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht in seinem Urteil 16 U 134/10 vom 23. Juni 2011 und sprach der Versicherungsnehmerin die vereinbarte Versicherungsleistung in Höhe von 100.000 Euro zu. Was war geschehen?

Erst im März 2006 hatte die Klägerin mit der beklagten Versicherung mehrere Unfallversicherungsverträge abgeschlossen, mit welchen sie sich selbst sowie ihren Lebensgefährten und ihren Sohn gegen Unfallschäden versicherte. Der Versicherungsschutz griff ab April 2006.

Just in diesem ersten Monat der Vertragslaufzeit sägte der Lebensgefährte der Versicherungsnehmerin auf dem ländlichen Anwesen mit einer Tischkreissäge Brennholz. Schenkt man der Sachverhaltsschilderung des Lebensgefährten der Versicherungsnehmerin Glauben, so rutschte er bei dieser Arbeit ab und schnitt sich den rechten Daumen ab.

Bei der Schadenregulierung stieß die Unfallversicherung auf zahlreiche Ungereimtheiten. Die Versicherungsnehmerin und ihr Lebensgefährte befanden sich zum Zeitpunkt der Verletzung in finanziell angespannten Verhältnissen. Auch der Umstand, dass sich der Unfall nur kurze Zeit nach Inkraftsetzung des Vertrages ereignete, ließ die Unfallversicherung stutzig werden. Mysteriös sei auch, dass sich der Versicherte nur am Daumen verletzt habe. Der Rest der Hand blieb unversehrt. Auch dies wertete die Versicherung als Indiz für eine freiwillige Selbstverstümmelung. Hinzu kamen widersprüchliche Aussagen zwischen dem Lebensgefährten der Versicherungsnehmerin und einem beim Unfall anwesenden Zeugen. Auch dass der Verletzte sich zur Behandlung in das Krankenhaus begeben hatte, ohne den abgeschnittenen Daumen mitzunehmen und dass dieser anschließend nicht mehr aufgefunden werden konnte, deutete das Versicherungsunternehmen als Indiz eines versuchten Versicherungsbetruges und verweigerte daher die Leistung.

Hiergegen wehrte sich die Klägerin mit ihrer Klage und bekam vom Oberlandesgericht Schleswig-Holstein recht. Nach den gesetzlichen Vorschriften müsse zugunsten des Versicherten vermutet werden, dass die Verletzung unfreiwillig erlitten wurde, so das Gericht. Dies bedeute aber, dass der Versicherer darlegungs- und beweisbelastet sei, wenn er die Leistung wegen einer freiwilligen Herbeiführung des Versicherungsfalles verweigern will.

Diesen Nachweis sah das Oberlandesgericht nicht als erbracht an. Es könne vorliegend nicht ausgeschlossen werden, dass der Schadenseintritt ein bloßes Unglück gewesen sei. Das Gericht hielt es für unwahrscheinlich, dass sich der Versicherte den rechten Daumen freiwillig selbst abgetrennt haben soll. Dieser sei Rechtshänder und der linke Daumen sei bereits vorgeschädigt gewesen. Vor diesem Hintergrund hätte es nahegelegen, so das Gericht, im Fall einer freiwilligen Selbstverstümmelung den linken Daumen abzutrennen. Vorliegend war jedoch der rechte Daumen abgetrennt worden.

Auch den Umstand, dass sich der Unfall so rasch nach Vertragsschluss ereignet hat, ließ das Gericht nicht als Argument gelten. Der Verlust eines Fingers sei schon für sich genommen ein extrem unwahrscheinliches Ereignis, von welchem die meisten Menschen zeitlebens verschont bleiben. Aus diesem Grund mache auch die zeitliche Nähe des Schadensereignisses zum Abschluss des Versicherungsvertrages die Lage nicht mehr viel unwahrscheinlicher, als sie ohnehin schon ist.

Die mangelnde Erinnerung der Zeugen und die widersprüchlichen Aussagen führte das Gericht indes auf den plötzlichen und überraschenden Eintritt des Unfalls zurück. Angesichts dessen sei es ein Wunder, dass sich die Zeugen überhaupt noch an Einzelheiten erinnern könnten. Weder sei es abwegig, dass jemand, dem ein Fingerglied abgeschnitten wird, dies im Schock der ersten Momente nicht bemerkt, noch sei es verwunderlich, dass der Daumen nach Rückkehr aus dem Krankenhaus in der ländlichen Lage des Anwesens nicht mehr aufzufinden war.

Nach alledem war das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Versicherte sich vorsätzlich selbst verstümmeln wollte. Es entschied daher zugunsten der Versicherungsnehmerin und sprach ihr die Versicherungsleistung in Höhe von 100.000 Euro zu.

Rechtsanwalt Jürgen Wahl
www.versicherungsrecht-offenbach.de

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