Versicherer müssen Versicherungsnehmern Einsicht in Gutachten gewähren

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Versicherungsnehmer haben grundsätzlich einen Anspruch auf Gutachten, die der Versicherer im Rahmen der Leistungsprüfung eingeholt hat. Dies bestätigt das Oberlandesgericht Frankfurt am Main in seinem Beschluss 12 W 38/20. Das Einsichtsrecht des Versicherungsnehmers in vom Versicherer eingeholte Sachverständigengutachten folge jedenfalls aus dem Kooperationsgebot als Konkretisierung des § 242 BGB. Hat der Versicherer ein fachärztliches Gutachten eingeholt, auf das er schwerwiegende Entscheidungen zulasten des Versicherungsnehmers stützt, so muss er dem Versicherungsnehmer Einsicht gewähren, wenn dieser keinen eigenen Informationsanspruch gegen den Arzt hat (so auch OLG Frankfurt, VersR 1992, 224; für die Krankenversicherung s. § 202 VVG).

Dabei stellte das Oberlandesgericht Frankfurt klar, dass der Anspruch auf Akteneinsicht grund-sätzlich der betroffenen Person und nur im Ausnahmefall einer anderen Person zusteht. Auch durch den Umstand, dass der Versicherer das Gutachten einem Dritten (zum Beispiel dem behandelnden Arzt) übersendet, damit dieser das Gutachten mit dem Versicherungsnehmer erörtert, wird er nicht von seiner Verpflichtung der Einsichtsgewährung gegenüber dem Versicherungsnehmer frei.

In dem zugrunde liegenden Fall hatte der Versicherungsnehmer Berufsunfähigkeitsleistungen bei der ALTEN LEIPZIGER Lebensversicherung a. G. beantragt, nachdem er etwa ein halbes Jahr arbeitsunfähig war. Die Versicherung hatte hierauf Berichte der behandelnden Ärzte und Therapeuten eingeholt und sodann ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zum Gesundheitszustand des Klägers in Auftrag gegeben. Im Rahmen der Begutachtung nahm der Versicherungsnehmer einen persönlichen Untersuchungstermin wahr.

In der Folge lehnte die ALTE LEIPZIGER Lebensversicherung a. G. den Antrag auf Berufsunfähigkeitsleistungen mit der Begründung ab, der Sachverständige habe in seinem Gutachten festgestellt, dass zum Begutachtungszeitpunkt eine remittierte depressive Episode im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung vorgelegen habe. Psychopathologisch sei lediglich eine leichte Reduzierung des Antriebsniveaus gegeben. Eine weitergehende depressive Symptomatik sowie mnestische und konzentrative Einschränkungen hätten sich nicht objektivieren lassen. Zu diesem Zeitpunkt sei eine Berufsunfähigkeit im versicherten Sinne nicht gegeben.

In der Folge begehrte der Kläger Einsicht in das eingeholte Gutachten, welches die ALTE LEIPZIGER Lebensversicherung a. G. diesem bis dato nicht zur Verfügung gestellt hatte. Hierzu schrieb die Versicherung wie folgt:

„Sollten Sie Einsicht in das erstellte Gutachten nehmen wollen, teilen Sie uns dies bitte mit. Aufgrund des Urheberrechts ist es uns nicht möglich, Ihnen das erstellte Gutachten zukommen zu lassen; jedoch Ihrem behandelnden Arzt zur Einsicht. Wir werden den Behandler informieren und ihm das Gutachten zuschicken, sobald Sie uns Ihr Einverständnis dafür erteilen und den entsprechenden Behandler benennen.“

Der Kläger teilte der Versicherung sodann den Namen und die Anschrift seines behandelnden Arztes mit, an welchen die ALTE LEIPZIGER Lebensversicherung a. G. das Gutachten mit Begleitschreiben vom 25.04.2019 übersandte. In diesem Schreiben untersagte sie es dem Arzt aber, dem Kläger eine Kopie des Gutachtens zur Verfügung zu stellen oder ihm direkt Einsicht in das Gutachten zu gewähren. In dem folgenden Arztgespräch fasste der Arzt das Gutachten bzw. Auszüge hieraus in eigenen Worten zusammen, gewährte dem Kläger aber gerade keine Einsicht in das Gutachten selbst.

Hierauf beauftragte der Versicherungsnehmer Rechtsanwalt Jürgen Wahl, der mit anwaltlichem Schreiben vom 30.04.2019 unter Fristsetzung Einsicht in das Gutachten forderte. Eine Reaktion der ALTEN LEIPZIGER Lebensversicherung a. G. erfolgte hierauf nicht. Selbst eine Beschwerde bei der BaFin blieb ohne Erfolg.

Schließlich erhoben wir im Auftrag des Klägers Einsichtsklage zum Landgericht Darmstadt mit dem Antrag, dem Kläger Einsicht in das Gutachten zu gewähren und ihm eine Kopie desselben zur Verfügung zu stellen.

Noch im Klageverfahren vertrat die ALTE LEIPZIGER Lebensversicherung a. G. die Auffassung, sie sei nicht verpflichtet, dem Kläger Einsicht in das Gutachten zu gewähren, schließlich habe der Gutachter die Versicherung angewiesen, das Gutachten nur an einen den Kläger behandelnden Arzt weiterzugeben, um eine „Betreuung“ bei der Einsichtnahme sicherzustellen. Sie vertrat weiter die Ansicht, dem Kläger stehe bereits dem Grunde nach kein Anspruch auf Einsichtnahme oder Zurverfügungstellung des eingeholten Gutachtens zu. Insbesondere könne er weder aus § 202 VVG analog noch aus den §§ 810, 242 BGB eine Übersendung des Gutachtens an sich selbst verlangen. Zudem sei ein etwaiger Anspruch lediglich auf Einsichtnahme, aber nicht auf Zurverfügungstellung einer Abschrift gerichtet. Ein etwaig doch bestehender Anspruch sei bereits durch Übersendung an den vom Kläger benannten Arzt erfüllt gewesen.

Gleichwohl stellte die Beklagte dem Kläger das Gutachten während des laufenden Verfahrens in Abschrift zur Verfügung, sodass der Rechtsstreit für erledigt erklärt werden konnte.

In seinem Beschluss 28 U 176/19 hat das Landgericht Darmstadt festgestellt, dass dem Kläger grundsätzlich ein Einsichtsrecht in das Gutachten zustand. Dies folge aus § 202 VVG analog oder aus § 810 BGB. Diese Rechtssicht bestätigt im Wesentlichen das Oberlandesgericht mit seiner Entscheidung über die sofortige Beschwerde.

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